Eineinhalb Wochen vor der ersten Prüfung meines Studiums über 40 habe ich das Handtuch geworfen. Warum ich die Prüfung trotzdem mitgeschrieben habe und wie um Himmels Willen ich es auch noch geschafft habe zu bestehen? Ehrlich gesagt, so richtig weiß ich das auch nicht. Aber ich wage hier mal den Versuch einer Rekonstruktion.
1. Akt: Ich mach‘ Schluss
Kurz vor meiner Chemie-Prüfung, die die erste Prüfung meines Zweitstudiums sein würde, machte ich Schluss mit dieser Schnapsidee Studium über 40. Es war kristallklar: das war nicht zu schaffen. Für diese Prüfung hätte ich den Abiturstoff Chemie beherrschen müssen und zusätzlich das, was wir seither neues im Studium gelernt hatten. Das Problem: für mich war alles neu, denn meine letzte Chemieschulstunde war irgendwann Anfang der 1990er. Und da ich Abi in Wirtschaft machte, war Chemie ohnehin nur unbedeutendes Nebenfach gewesen. Das einzige, was von damals hängen geblieben war lässt sich zusammenfassen zu: Chemie ist irgendwas mit Atomen.
Ich lernte Tag und Nacht, aber kam trotzdem auf keinen grünen Zweig. Die Menge an Stoff, die ich noch nicht konnte schien nicht kleiner zu werden. Angesichts dieses aussichtslosen Unterfangens zog ich die Notbremse und kam zu dem Schluss: das kann man nur schaffen, wenn man vorab sein Chemie-Abi nachgeholt hat. Und das hatte ich leider nicht. Also beendete ich das Projekt Zweitstudium über 40. Ich gab all meine Bücher ab, verließ alle Studien-WhatsApp-Gruppen und verschenkte meinen Schreibblock an meinen studierenden Sohn. Fast eine Woche lang machte ich nichts außer meine wiedergefundene Freiheit genießen. Ich hörte mir ein paar Physikvorlesungen an, einfach aus Spaß und Interesse. Außerdem schreib ich ein paar Blog-Artikel. Einfach weil ich endlich mal Zeit dafür hatte. Aber während all der Zeit ließen mich das Studium und die Chemie nicht los. Irgendwie fuchste es mich schon… Ich wollte es können. Wollte es durchdringen. Und ich war traurig, dass mein Projekt Studieren über 40 gescheitert war. Ich hatte mich so darauf gefreut.
Wenige Tage vor der Chemieprüfung traf ich meine Kommilitoninnen bei einer Vorlesung über die Wirkung von Arzneimitteln. „Komm nach der Vorlesung mit in die Bibliothek. Wir machen Chemie, erklären’s Dir und überreden Dich, mit dem Studium weiterzumachen.“ Sie sind einfach die besten. Naja, ich wollte ohnehin in die Bibliothek, denn ich musste einen weiteren Stapel Bücher zurückbringen. Im Laufe der Zeit hatte ich so viele Bücher ausgeliehen, dass ich die gar nicht alle auf einmal tragen konnte und deshalb etappenweise zurückbringen musste. Also ging ich mit in die Bibliothek und setze mich mit zu ihnen. Mit Engelsgeduld erklärten sie mir die Aufgaben, an welchen ich vorher verzweifelt war und heulend das Handtuch geworfen hatte. „Gar nicht so schwer“ dachte ich. Und als ich abends nach Hause kam, kramte ich das Unizeug wieder raus und entriss meinem Sohn den Schreibblock, welchen ich ihm überlassen hatte.
2. Akt: Wiedereinstieg fünf Tage vor der Prüfung
Fünf Tage vor der Prüfung fing ich also an, wieder zu lernen. Diesmal deutlich entspannter. Denn eins war klar: machbar war das ohnehin nicht mehr. Statt mich also durch die Aufgabenkomplexe zu kämpfen, von denen ich ohnehin keine Ahnung hatte, konzentrierte ich mich auf das, was ich irgendwie konnte. Statt wie sonst Tag und Nacht zu lernen, verbrachte ich nun die Abende mit meinem Mann und Netflix. Angesichts der Tatsache, dass die Prüfung für mich nicht zu schaffen war, war ich tiefenentspannt. Wenn meine Familie und Freunde mir „viel Erfolg“ für die Prüfung wünschten, sagte ich „Danke. Aber wünsche mir nicht viel Erfolg, denn erfolgreich werde ich nicht sein können. Wünsche mir lieber viel Spaß oder dass ich nicht anfange zu heulen. “
3. Akt: Entspannt in die Chemie-Klausur
Entsprechend entspannt ging ich zur Prüfung. Es war klar, dass ich nicht bestehen würde. Warum also aufregen. Während der Prüfung trug ich meinen Spire Activity Tracker. Der misst die Atemfrequenz und vibriert, wenn man so angespannt ist, dass die Atmung flach und unregelmäßig wird. Die Aufzeichnungen (siehe Foto) zeigen, dass ich während der Prüfung 64 Minuten tiefenentspannt war und neun Minuten konzentriert. Während der übrigen Zeit wurde neutrales Atmen registriert. Und so habe ich das auch in Erinnerung. Das Gefühl von totaler Gelassenheit.
Ich arbeitete die Prüfung von vorne bis hinten durch, wobei ich auf sehr vielen der zwölf Seiten gar nichts hinschrieb. Null. Nada. Nix. Viele Seiten lang. Das waren die Aufgabenkomplexe, die ich bei der Vorbereitung aufgrund völliger Ahnungslosigkeit und Zeitmangel keines Blickes gewürdigt hatte. Ich konnte nicht mal zuordnen, zu welchem Themenkomplex die Aufgaben genau gehörten, so ahnungslos war ich. Entsprechend war ich bereits nach der Hälfte der angesetzten drei Stunden Prüfung fertig.
Normalerweise schaut man dann ja nochmal seine Antworten durch, doch darauf verzichtete ich. Warum auch. Vergebene Liebesmüh. Ich war schon kurz davor abzugeben, als ich mich entschied, die Zeit anderweitig zu nutzen. Für die Bearbeitung der Prüfung war uns ein Periodensystem überlassen worden, welches wir nicht wieder mit abgeben sollten. Also entschied ich mich, die komplette Prüfung darauf abzuschreiben – für die Studierenden nach mir. Sie würden sich mit Hilfe der Fragen besser auf ihre eigene Prüfung vorbereiten können. Solche Altklausuren hatten mich durchs BWL-Studium getragen und es war an der Zeit den Generationenvertrag zu erfüllen und auch mal eine Altklausur beizusteuern. Nach einer Stunde abschreiben war ich fertig, ließ das Periodensystem mit den kopierten Prüfungsfragen in meiner Tasche verschwinden und gab meine Prüfung ab.
Schlussakt: Der Schock nach der Prüfung
Am nächsten Tag war ich gerade mit meinem Mann bei einer Trainer-Stunde im Fitness-Studio, als nach und nach die WhatsApp-Nachrichten meiner Kommilitonen eintrudelten, dass die Prüfungsergebnisse online sind. Alle bis auf eine hatten bestanden. Ich hielt es nicht für nötig meine Note abzurufen, denn das Ergebnis kannte ich ja. Aber dann loggte ich mich doch ins Netz der Uni ein. Als ich dann da im Fitness-Studio ins Handy schaute und entgeistert-schockiert „Oh mein Gott“ ausstieß, dachten mein Mann und der Trainer, etwas schlimmes sei passiert. Aber ich war einfach fassungslos, weil da „bestanden“ stand.
Inzwischen sind ein paar Tage vergangen und so richtig kann ich noch immer nicht glauben, dass ich bestanden habe. Da muss doch ein Fehler unterlaufen sein. Wahrscheinlich sind sie beim Einpflegen ins System in der Zeile verrutscht. Diesen Blogbeitrag stelle ich daher erst online, wenn die Note vom Prüfungsamt bestätigt wurde. Dennoch habe ich mir nun einen Laborkittel bestellt und mich fürs Chemische Praktikum eingetragen, denn das startet bereits nach den Weihnachtsferien. Teilnehmen darf nur, wer die Chemie-Prüfung bestanden hat. Aus Sicherheitsgründen. Herrje, ich hoffe, ich bin kein Sicherheitsrisiko.
So klappt studieren über 40 – Ergänzung
Aber wenn Du das hier liest, dann habe ich tatsächlich bestanden und folglich muss ich mein Fazit zu „So klappt studieren über 40“ noch um ein paar Punkte ergänzen. Im Hinblick auf die Prüfungszeit gilt zum Beispiel:
Nerven bewahren
Eigentlich hätte ich’s wissen müssen. Prüfungen schreiben ist zu einem Großteil Kopfsache, also Strategie. Eigentlich gilt es nur, einen kühlen Kopf zu bewahren in mitten des Ausnahmezustands während der Prüfungsvorbereitung. Trotz der großen Stoffmenge ruhig Blut bewahren und eins nach dem anderen durcharbeiten. Diese Erkenntnis hatte ich bereits als junge BWL-Studentin mit Vordiplom in der Tasche. Viele hundert hatten gemeinsam mit mir das BWL-Studium begonnen aber nach dem Vordiplom waren wir deutlich weniger geworden. Damals hatte ich es so empfunden, dass wir übrig gebliebenen keineswegs schlauer als die anderen waren. Wir hatten nur einfach weitergemacht obwohl es oft aussichtslos erschien. Wir haben uns durch diese riesigen Berge an Ordnern und Büchern gearbeitet, trotz der Verzweiflung und dem unguten Gefühl, dass niemals alles beherrschen zu können. 20 Jahre später in meinem Zweitstudium über 40 warf ich dieses Wissen über Bord und mir ging der Arsch auf Grundeis. Ich verlor die Nerven und warf alles hin. Dass ich’s doch noch geschafft habe, habe ich einem weiteren, wenn nicht wichtigsten Erfolgsfaktor zu verdanken:
Ein unterstützendes Umfeld
Mein Mann und meine Kinder haben mich immer bei meiner verrückten Idee über 40 nochmal zu studieren unterstützt. Mein Mann war bis zum Schluss überzeugt, dass ich Chemie bestehen würde. Das konnte ich ihm auch nicht ausreden. Meine Tochter, die in einer anderen Stadt Naturwissenschaften studiert, hat mir per Videochat chemische Reaktionen erklärt. Und als ich verkündete, dass ich mein Studium schmeißen würde, sagte sie: „Schade. Ich bin sicher, Du hättest es bestanden.“ Auch meine Schwester meinte: „Schade. Ich hab‘ mir immer gedacht: wenn’s einer schafft, dann Du.“ Ich habe zwar keine Ahnung, warum sie so zuversichtlich waren, aber so viel Zuspruch motiviert. Und dann noch meine wundervollen Kommilitonen, die für sich selbst schon so entzückend sind, dass man das Studium schon allein deshalb durchziehen möchte, um Zeit mit ihnen zu verbringen. Und dann schafften sie es auch noch, mich zum Weitermachen zu bewegen nachdem ich schon alle Zelte abgebaut hatte. „Kommt, wir müssen sie jetzt gemeinsam überreden, dass sie weitermacht“ sagte die eine zu den anderen. Es war die gleiche junge Frau, die schon damals im Mathe-Repetitorium mein Scheitern nicht akzeptierte und geduldig aber bestimmt dafür sorgte, dass ich die Aufgaben zu Ende rechnete.
Was für ein Geschenk von so wunderbaren Menschen umgeben zu sein. Und diese gegenseitige Unterstützung ist sicherlich ein essentielle Zutat, die zum Gelingen eines Studiums über 40 beiträgt – oder zum Gelingen von so ziemlich allem im Leben.
29. Mai 2018 um 16:09 Uhr
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