Ich hatte ja noch einen Bericht darüber versprochen, wie ich mit dem vielen Stoff umgehe, wie mein Tagesrhythmus als Studentin über 40 aussieht und wie ich das alles mit meiner Selbständigkeit unter einen Hut bekomme. Tja, was soll ich sagen: Bisher hatte ich keine Zeit für diesen Blogbeitrag gefunden. Das sagt schon alles, oder? Für alle, die’s genau wissen wollen, gerne weiterlesen.
Mein Tagesablauf als Studentin über 40
Yep, studieren über 40 ist ein Fulltime-Job und alles im Leben richtet sich danach aus. Meine Vorlesungen beginnen um 8:15 Uhr und obwohl ich nur 20 Kilometer vom Campus entfernt wohne, muss ich 1 Stunde vorher losfahren. Berufsverkehr und Parplatz-Fight, man kennt das. Soweit kein Unterschied zum normalen Job-Wahnsinn. Auch das Schatz-ich-komme-heute-später unterscheidet sich kein bißchen vom Arbeitsleben. Die Tage in der Uni enden spät und ich bin meist erst gegen 19 Uhr zu hause. Und hier kommt der Unterschied zum Jobleben: Danach ist es nicht vorbei, sondern es beginnt die Nachtschicht am Schreibtisch.
Um das Programm durchzuhalten bedarf es einiges an Organisation, Vorbereitung und Delegation. Kochen zum Beispiel delegiere ich an meinen Schongarer (SlowCooker). Da schmeißt man morgens Zeug rein, das dann den Tag über unbeaufsichtigt auf kleiner Flamme vor sich hinkochen kann. Und abends ist es dann fertig. Entsprechend stehe ich morgens um halb sechs auf, um den Schongarer zu füttern und auch ein paar Snacks für den Tag einzupacken. Denn eines ist klar: ohne adäquate Energiezufuhr ist der Marathon nicht zu schaffen.
Was ich den ganzen Tag an der Uni mache
Der Tag an der Uni ist dann ein Mix aus Vorlesungen, Übungen und Seminaren. In den Freistunden sitze ich mit Ohrstöpseln in der Bibliothek und arbeite alles nach. Das bedeutet, ich lese alles nochmal in den entsprechenden Kapiteln der Literatur und fasse das Wichtigste zusammen. Außerdem gibt es in Mathe, Physik und Technischer Mechanik noch Hausaufgaben und Übungsaufgaben zu bearbeiten. Und klar, in der Uni bekommt man alles nicht mehr klitzeklein vorgetanzt wie in der Schule, sondern muss ggf. Lösungsansätze selbständig recherchieren. Mit all dem bin ich gut beschäftigt. Denn weil ich nicht auf frisches Wissen aus der Schulzeit zurückgreifen kann, muss ich ggf. noch die Grundlagen erarbeiten, auf die alles aufbaut.
Alles neu für mich – oder?
Es ist zwischen 20-25 Jahre her, dass ich mich das letzte Mal mit höherer Mathematik, Physik oder Chemie beschäftigt habe. Es ist erstaunlich, wie viel man in der Zeit vergisst. Man vergisst sogar, dass man etwas mal wusste. Mehr als einmal fand ich mich in einer Situation wieder, in welcher ich felsenfest davon überzeugt war, von einem Konzept noch nie im Leben etwas gehört zu haben. Und dann, nach ein paar Minuten, blitzte plötzlich eine Erinnerung auf.
Keine Erinnerung in dem Sinne, als dass ich schlagartig wieder wüsste, wie alles funktioniert. Schön wär’s. Mein Gehirn erinnert sich nicht an die Konzepte. Nur an Bilder und Gefühle dazu. Wie zum Beispiel als der Mathe-Prof ein Thema vorstellte und ich völlig fasziniert war, wie wieder mal in der Mathematik alles irgendwie aufgeht und fast schon poetisch miteinander zusammenhängt. Ich wandte mich zur Kommilitonin neben mir und sagte: „Ist ja schon geil, wie das alles so aufgeht.“ Und sie so: „Kennste das nicht? Haben wir in der Schule auch gemacht.“ Und dann zeigte sie mir, wie sie in der Schule in so einer Dreiecksmatrix immer mit Bleistift Striche gezogen hätten, um die einzelnen Elemente voneinander abzugrenzen. Und Boom. Plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge, wie ich eben jene Stiche in eine Dreiecksmatrix auf einem Blatt vor mir zog. Und ich erinnerte mich an das begleitende Gefühl: „Entspannte Routine. Das ist leicht.“ Ich hatte das schon tausendmal gemacht. Aber als es mir nach 25 Jahren wieder vorgestellt wird, bin ich zunächst felsenfest davon überzeugt, das zum ersten Mal im Leben zu hören.
Die Erinnerung lebt nicht nur in Gefühlen und Bildern weiter, sondern auch in Bewegungsabläufen. Das meint man wohl damit, wenn man sagt: „Fahrradfahren verlernt man nicht“. Nun gibt es leider in so einem Studium nicht wirklich viele Bewegungsabläufe. Die einzige Bewegung, die man macht ist Schreiben. Im Mathe-Repetitorium wurde die sogenannte abc-Formel besprochen. Alle im Raum kannten sie. Manche nannten sie Mitternachtsformel, weil sie angeblich so wichtig wäre, dass man sie auswendig kennen sollte, wenn man nachts geweckt würde. Ich war mir sicher, noch nie von dieser Formel gehört zu haben. Doch als ich sie abschrieb, bemerkte ich, dass meine Hand sie fast wie von alleine schrieb. Es war eine offensichtlich vertraute Abfolge von Zahlen, Variablen und Rechenoperationen. Und je häufiger ich sie schrieb, umso mehr erinnerte ich mich. Ja, ich kannte diese Formel. Ich hatte sie tausendmal geschrieben. Ich wusste sie mal auswendig, weil ich sie einst ständig verwendete. Meine Hand erinnerte sich an den Bewegungsablauf, noch ehe sich mein Hirn wieder daran erinnerte. Bilder, Gefühle und Bewegungen. Das scheint unsere Erinnerungen auszumachen. Meine zumindest.
Spaß an der Schule vs. Uni
Kurzer Exkurs zur Schule: Dass man sich anscheinend vor allem an Bilder, Bewegungen und Gefühle erinnert, sollte viel mehr in den Unterricht einfließen. Aber leider wird das im Schulunterricht nicht ausreichend aufgegriffen. Meine Erinnerungen an die Schul-Physik beschränken sich zum Beispiel auf Bilder von Versuchen mit Eisenspänen und Magneten, die wir auf dem Overhead-Projektor nachverfolgen sollten. Und ich erinnere mich, dass ich quadratische Objekte in mein Physikheft malte auf die ein Pfeil zeigte, der mit „F“ gekennzeichnet war. Aber vor allem erinnere ich mich an den Physik-Lehrer, vor dem alle Angst hatten. Wegen seiner Horror-Abfragen. Weil diese Abfragen so schlimm waren, lernte ich immer alles auswendig und hatte eine zwei in Physik. Es ist wohl bezeichnend für das Versagen des Lehrers, dass ich mich eben nicht an die Inhalte, sondern nur an die schlimmen Abfragen dieser Inhalte erinnere. Die Gefühle und Bilder meiner Physik-Erinnerung eben. Wäre es nicht viel schöner gewesen, Gefühle von Spaß und Begeisterung mit Physik zu verbinden? Und tolle Bilder von anschaulichen Versuchen in Erinnerung zu behalten?
Wie anders werden meine Physik-Bilder und Gefühle der Uni-Vorlesungen sein. Das Fach heißt Experimentalphysik und der Name ist Programm: in jeder Vorlesung werden mehrere Versuche gezeigt und die grundlegenden Konzepte der Physik erlebbar gemacht. So begeistert man Menschen für Physik, nicht mit Auswendiglernen von Merksätzen ohne praktischen Bezug, wie ich es in der Schule erlebt habe.
Die Uni-Bibliothek: Lernen, Meditieren und Schlafen
Zwischen den Vorlesungen verbringen wir Zeit in der Uni. Meine Kommilitonen sind meist im Gruppenraum, wo sie trotz Lärm lernen und arbeiten können. Beneidenswert. Nach Jahren in meinem Chef-Einzelbüro kann ich nicht mehr klar denken, so bald neben mir jemand auch nur atmet. Deshalb sitze ich meist in der Ruhezone der Bibliothek – mit Ohrstöpseln versteht sich. Hier sitzen alle vor ihren Büchern und lernen. Oft sieht man auch jemand, der über den Büchern eingeschlafen ist. Inklusive mir selbst. Nach so viel Input über Stunden, braucht es einfach auch mal eine kurze Erholung. Einmal habe ich mich sogar in einem der Einzelkabinen der Bibliothek eingeschlossen und auf dem Schreibtisch geratzt. Inzwischen denke ich, das ist der Hauptverwendungszweck dieser kleinen Studierzimmerchen: entspannt Nickerchen halten vor der nächsten Vorlesung. Nur wenn wieder mal ein Pärchen aus einem der privaten Räume kommt, werde ich an den wahrscheinlich zweithäufigsten Nutzungsgrund für diese abschließbaren Kämmerchen erinnert.
Aber zurück zum Studieren: Neben kurzem Schlummern hilft mir vor allem Meditation, das Pensum durchzustehen. Einfach in der Bibliothek vor den Büchern sitzen, Augen schließen und auf den Atem konzentrieren. Nach ein paar Minuten ist mein Geist wieder beruhigt und ich habe meine Konzentrationsfähigkeit zurück. Ich behaupte mal, ohne Meditation bzw. diese Atemübungen wäre der Lern-Marathon nicht machbar – für mich jedenfalls.
Guten Morgen, liebe Neuronen
Wie mein Gehirn auf die veränderten Anforderungen reagiert, habe ich ja schon in meinem letzten Beitrag berichtet. Inzwischen bemerke ich auch das Ergebnis: Ich fühle mich irgendwie wacher im Kopf. Das Denken ist schärfer geworden, auch wenn ich vorher nicht das Gefühl hatte, dass es stumpf war. Und: ich habe zurück zum Lesen gefunden. Ich war früher eine totale Leseratte. Aber in den letzten 10-15 Jahren habe ich kaum noch gelesen. Es schien mir mühsam und ermüdend. Jetzt mit dem Studium, umgeben von Büchern, ist meine Leidenschaft für Literatur zurückgekehrt. Ich finde wieder Freude daran, mich in Bücher zu vertiefen. Ganz egal ob Fachliteratur oder (theoretisch, wenn ich dafür Zeit hätte) Belletristik. Ich finde Bücher endlich wieder klasse, spannend und horizonterweiternd!
Insgesamt finde ich es tröstlich, dass unser Gehirn tatsächlich fähig ist, sich auch im Alter noch zu ändern, neue Verknüpfungen aufzubauen und „aufzuwachen“. Es ist tatsächlich wie ein Muskel, der trainiert werden kann. Die anspruchsvollen Matheaufgaben im Studium haben mir aber auch gezeigt: es muss schon wirklich etwas sein, womit das Hirn sehr gefordert ist, damit ein Trainingseffekt einhergeht. Ich habe ja schon mal – nebenberuflich – eine Art Aufbaustudium im Bereich Marketing gemacht. Dabei habe ich diesen Effekt auf mein Hirn nicht in diesem Maße verspürt. Für mein Gehirn war das Wochenend-Marketing-Studium damals wohl nur so eine Art Walking-Training. Das Studium der höheren Mathematik wiederum gleicht eher einem Training für einen Zehnkampf. Mit deutlichem Trainingseffekt bzw. genannten Auswirkungen auf das Gehirn. Blöd nur, dass das wieder verschwindet, wenn man mit dem Training aufhört. Daher, wer das Gefühl hat kognitiv abzubauen und dem entgegenwirken möchte: Mathe!
Überforderung vs. Begeisterung
Aber ein Zuckerschlecken ist das alles nicht. Dieses Gehirntraining muss man sich hart erarbeiten. Immer wieder gibt es Momente, an denen ich denke: „Was für eine Schnapsidee! Da kommst Du niemals mit.“ Oft schon wollte ich alles hinschmeißen. Sehr oft war ich kurz davor. Aber dann machte ich trotzdem weiter. Und die tollen jungen Frauen, die ich im Studium kennengelernt habe, sind dabei eine große Motivation. Wenn ich ihnen sage, dass ich oftmals kurz vorm Heulen bin, wenn ich Mathe-Hausi zunächst nicht lösen kann, sagen sie: „Ja, das ging mir bei Mathe auch oft so.“ Das tröstet und zeigt, dass man diese Hindernisse überwinden kann. Und tatsächlich. Nach einer Zeit brauche ich für eine Mathe-Hausaufgabe nicht mehr ein ganzes Wochenende, sondern löse sie an einem Freitag Nachmittag. Zwar machen meine Kommilitonen die selbe Hausi oft nebenbei in einer Vorlesung, aber hey gesteigert habe ich mich trotzdem.
Was in Momenten des Zweifels auch hilft: Die Erinnerung daran, warum ich mich ursprünglich für das Studium entschieden hatte. Ich wollte endlich mal wieder gefordert werden. Nach vielen Jahren im Job hatte ich oft das Gefühl, alles schon zu kennen und zu wissen. Es war langweilig, trotz aller Anstrengungen. Ich wollte auch mal etwas nicht können. Mal nicht die schlauste im Raum sein, auch wenn das abgehoben klingt. Tja und genau das habe ich bekommen: Ich bin definitiv nicht mehr die schlauste im Raum und werde jeden Tag gefordert. Daher: Hütet Euch vor Euren Wünschen, denn sie könnten in Erfüllung gehen. Trotz oder eben gerade wegen dieser Hürden macht studieren Spaß. Irre. Jeden Tag etwas neues Lernen zu dürfen ist ein Geschenk.
Von der Klassenbesten zur Sonderschülerin
Aber trotz aller Fortschritte: Man muss hart im Nehmen sein und ein unerschütterliches Selbstbewusstsein haben, wenn man über 40 nochmal zu studieren anfängt. Ich war eine gute Schülerin, habe in manchen Abiturfächern die beste Arbeit der Schule hingelegt und war immer Stolz auf die eins vor dem Komma meiner Diplomnote. Ich habe zeitlebens viel Selbstbewusstsein aus der Tatsache gezogen, dass ich Dinge gut konnte und schnell begriff. Aber natürlich wird man im Laufe der Zeit besser im Bereich, in dem man arbeitet und vergisst die Dinge, die man nicht mehr benötigt. Höhere Mathematik, Physik und Chemie zum Beispiel waren für meine BWL-Karriere nicht von belang.
Aber in meinem Ingenieurstudium ist es das einzige, das zählt. Und der Maßstab für das Niveau, das vorausgesetzt wird sind Abiturienten, die gerade von einem naturwissenschaftlichen Gymnasium kommen. Diese jungen Menschen hatten nur eine Aufgabe in ihrem bisherigen Leben: das Abitur bestmöglich zu bestehen. Darauf wurden sie zwölf Jahre lang trainiert, darauf fokussierte sich ihr Leben, seit sie sechs Jahre alt waren. Wenn sie in der Uni ankommen sind sie eine Art Rechenmaschine. Sie können innerhalb kürzester Zeit Aufgaben lösen, neues Aufnehmen und Konzepte auswendig lernen. Wir alle waren so, als wir aus der Schule kamen.
Und nachdem die Fertigkeiten, in denen ich heute gut bin, an der technischen Fakultät nicht wichtig sind, fühle ich mich des öfteren auf dem Niveau einer Sonderschülerin. Erst Recht in Mitten all der jungen Menschen, die vor wenigen Monaten Abi gemacht haben. Zum Glück geben sie mir allerdings überhaupt nicht dieses Gefühl. Meine Kommilitonen sind super hilfreich und erklären geduldig alles. Für dieses schöne Miteinander bin ich sehr dankbar.
Du stellst Dir zu viele Fragen
Was den jungen Menschen in ihrer Schulzeit allerdings nicht gelehrt wurde, ist nach dem Warum zu fragen. Ich wiederum will das Gesamtbild erkennen. Ich will wissen, warum wir ein bestimmtes Konzept lernen und für was ich es als Ingenieurin brauchen werde. Warum ist es beispielsweise wichtig, als Ingenieurin lineare Gleichungssysteme lösen zu können? Die Antwort einer Kommilitonin: „Du stellst zu viele Fragen nach dem Sinn. Das tun wir nicht. Wir bekommen eine Formel von der heißt es, wende die an und dann wenden wir die an.“ Ihre Antwort verwundert nicht, denn in der Schule habe ich auch nur stur nach Schema gemacht was die Aufgabenstellung verlangte.
Erst im Studium lernt man die Zusammenhänge kennen und es wird klar, warum bestimmte Konzepte wichtig sind. So war es auf jeden Fall bei mir in meinem Erststudium. Ich würde sogar sagen, das Wissen um Zusammenhänge ist eines der wichtigsten Learnings, die man aus einem Studium mitnimmt. Ich bin sicher, dass die heutigen Studienanfänger nach Abschluss ihres Studiums ebenfalls wissen, warum sie das alles gelernt haben – und dann bestimmt nachvollziehen können, warum ich immer alles so genau wissen wollte.
100 % Lösungen und der Mut zur Lücke
Ein weiterer Unterschied zwischen mir und meinen jungen Kommilitonen ist ihre absolute Entspanntheit, wenn sie mal nicht alle Aufgaben 100 % lösen können. Mut zur Lücke ist ein gangbares Konzept für sie. Diese Zufriedenheit, wenn man nur einen Teil der Aufgaben korrekt lösen konnte, begleitet von Aussagen wie: „Wird schon reichen, um 50 % der Hausaufgabenpunkte zu erhalten.“ oder „Ich wusste nicht, was ich hinschreiben soll also hab‘ ich mal zwei Möglichkeiten hingeschrieben. Wird sich der Korrektor schon das richtige raussuchen. Passt schon so.“ Say what?! Für mich undenkbar. Ich recherchiere bis ins Detail, um bis auf die 2. Nachkommastelle alles korrekt zu haben. Erstaunt verglich ich ihre Entspanntheit mit meinem Anspruch alles zu 100 % richtig zu lösen. Woher kommt das?
Der Unterschied: Ich hatte die letzten Jahrzehnte in der wahren Welt verbracht, während sie in einem geschützten Klassenzimmer Übungsaufgaben bearbeiteten. Wenn man als Schüler Fehler macht, gibt’s Punktabzug, mehr nicht. Meine Arbeiten in der realen Welt waren keine Übungen, sondern das wahre Leben. Fehler in der realen Welt haben Auswirkungen auf Menschen, Kosten, Karrieren. Als Schüler kalkulieren wir Fehler achselzuckend ein. Fehler in einer Schulaufgabe waren ärgerlich, aber vertretbar. Im Job kann man sich das nicht erlauben, schon gar nicht als (weibliche) Führungskraft. Niemals hätte ich Anfragen meines Chefs halbfertig abliefern können mit den Worten „Da wusste ich nicht genau, wie man das jetzt rechnet also hab‘ ich den Teil der Aufgabe ausgelassen“.
Wenn ich Entscheidungsgrundlagen für die Geschäftsführung erarbeitete, mussten die stimmen. Immer. Da gibt es kein „War mir da im Mittelteil nicht ganz sicher, ob es stimmt. Hab das jetzt halt mal so hingeschrieben wie ich dachte, dass es stimmen könnte.“ Nope. Das ist nicht die Art und Weise, wie man Karriere macht und es ist auch nicht die Art und Weise wie Unternehmen erfolgreich sind. Und entsprechend gehe ich mit einem 100 % Anspruch an die Mathe-Hausi und jede andere Aufgabe heran und gebe erst Ruhe, wenn ich alle offenen Punkte beantworten und vollends für meine Arbeit geradestehen kann. Berufskrankheit einer Führungskraft.
Einige Profs gingen sogar auf diesen Sachverhalt ein und sagten, dass Berechnungen stimmen müssten. Weil eben die Brücke schief hängt, wenn die Ingenieure nicht korrekt arbeiten. Dennoch, so richtig erfasst man das mit den 100 % erst, wenn man tatsächlich arbeitet. Und weil das Studium eben nicht das wahre Leben ist, sei den jungen Kommilitonen ihre Unbekümmertheit noch ein paar Jahre gegönnt.
Wie ich in der Ferne die BWL lieben lernte
Ursprünglich bin ich ja Betriebswirtin. Wobei ich zugeben muss, dass das Studium damals eher eine Notlösung war, weil mir nichts besseres einfiel. Naja eigentlich hatte ich keine andere Wahl. Denn mit dem Fachabitur in Wirtschaft war BWL das einzige Fach, das ich überhaupt studieren durfte. So richtig begeistert hat mich das BWL-Studium aber nie. Ganz anders das Ingenieurstudium jetzt. Ich lerne verschiedene naturwissenschaftliche Zusammenhänge und Sachverhalte kennen und bin einfach nur begeistert. Es kam echt schon vor, dass ich „Woah, geil!“ sagte und dachte, wenn ich mich mit Chemie oder Mathe beschäftigte. Völlig hin und weg. Ich kann mich nicht erinnern, das ich diese Begeisterung und Faszination jemals beim Studium der BWL hatte. Dennoch merke ich jetzt in der Ferne, dass das BWL-Studium so falsch nicht war.
In der BWL ging es von Anfang an auch um den Diskurs. Themen wurden nicht nur aus fachlichen Gesichtspunkten betrachtet, sondern auch politisch, umweltpolitisch, finanzpolitisch, sozialpolitisch. Man betrachtet in der BWL nicht nur das eigene Handeln, sondern auch seine Auswirkungen auf das Umfeld. Wie wird der Markt reagieren? Die Öffentlichkeit? Die Mitarbeiter? Das zieht sich mehr oder weniger durch alle Aspekte der BWL und entsprechend gibt es in der BWL steten Meinungsaustausch und Diskussion. Im Vergleich dazu kommt mir mein jetziger, technisch-naturwissenschaftlicher Studiengang sehr eindimensional vor. Es geht nur um eines: die technische Machbarkeit. Umweltaspekte, gesellschaftliche Themen oder jeglicher Diskurs dazu wird völlig ausgeblendet oder nur nebenbei erwähnt. Zum Beispiel in Chemie: da wurde ein technisches Verfahren vorgestellt nur um dann – nicht ohne Bedauern in der Stimme – mitzuteilen, dass dieses Verfahren jedoch nur noch selten verwendet wird, weil „die Umweltbestimmungen ja auch immer strikter werden“.
In einem anderen Fach werden uns Mikroplastiken vorgestellt. Die sorgen zum Beispiel dafür, dass Zahnpasta eine feste Paste ist und nicht flüssig aus der Tube läuft. Eineinhalb Stunden werden wir berieselt zu Partikeln und ihrer Anwendung in der Industrie. Kein Wort zur Umweltproblematik oder gesundheitlichen Problematik der Mikroplastiken oder anderer problematischer Partikel. Es geht einzig und allein um die Anforderungen, die an ein Produkt gestellt werden, welche man als Ingenieur zu realisieren hat. Wow. Da blickt die BWL weit mehr über den Tellerrand hinaus und reflektiert auch selbstkritischer das eigene Handeln. Ich muss zugeben, dass ich in der Vergangenheit immer mal wieder Ingenieure als Fachidioten wahrgenommen habe. Und mit den ersten paar Ingenieurwesen-Vorlesungen an der Uni schwant mir, wie es dazu kommen kann.
Aber um das ganze BWL vs. Ingenieur etwas entspannter zu betrachten, eine kleine Anekdote aus der Physik-Übung. Wer sich etwas genauer mit der Physik beschäftigt weiß: die Physik liebt ihre Einheiten. Und Physiker legen größten Wert darauf, dass die Einheiten immer mit zur Rechnung geschrieben werden und da zig verschiedene Größen miteinander in Beziehung stehen, kann das schon mal ein ziemlich umfangreiches Unterfangen werden. Ich wiederum finde, die Einheiten nerven. Hauptsache, man weiß was am Ende rauskommt, oder? Als wir also in der Physik-Übung irgendwas berechneten und der Tutor (ein Student eines höheren Semesters) auf mein Blatt blickte, standen ihm die Haare zu Berge, weil ich die Einheiten nur unvollständig hingeschrieben oder einfach weggelassen hatte. Als er wieder abzog meinte ich zu meiner Banknachbarin: „Was für ein Mist. In der BWL gab’s immer nur eine Einheit. Euro.“ 😉
Zum Abschluss noch ein Artikel aus dem Spiegel, der trotz meiner wiederentdeckten Liebe für die BWL aufzeigt, warum ich nicht mehr an die BWL als zukunftsträchtiges Studienfach glaube. Zusammengefasst beschreibt der Artikel, dass ein BWL-Studium allein heute nichts mehr wert ist. Zum einen weil es zu viel Konkurrenz aus anderen Studiengängen gibt und zum anderen weil beispielsweise das Marketing immer technischer wird und Ingenieur-Kenntnisse nötig sind. Darüber hinaus gibt es inzwischen eine Schwemme an BWLern und diese Masse wird einfach nicht mehr gebraucht. Das alles entspricht auch meiner Wahrnehmung. In klassischen BWL-Jobs tummeln sich heute Pädagogen, Psychologen und sonstige Gestrandete. Und da ich selbst im Marketing für erklärungsbedürftige Produkte gearbeitet habe, weiß ich: ja, als BWLer kommst Du da an Deine Grenzen. Ohne Ingenieur an Deiner Seite kannst Du kein Marketing für diese Produkte machen. Und auch der „zu viele BWLer“ Behauptung stimme ich zu. Ich kenne inzwischen einfach zu viele BWL-Absolventen, die keinen Job finden. Das war zu unserer Zeit noch anders. Da hat jeder nach dem BWL-Studium einen Job bekommen.
So genug für heute. Im nächsten Artikel berichte ich dann aber endlich davon, wie ich es schaffe, mein Zweitstudium mit meiner Selbständigkeit zu vereinbaren. Versprochen.